GORAN POTKONJAK

Photography

BEOGRAD

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Am Sonntag, dem 4. Mai 1980 starb Josip Broz Tito, der Präsident Jugoslawiens auf Lebenszeit, in Ljubljana. Neun Tage später wurde er in Belgrad beigesetzt; aus diesem Anlass reisten Staatsoberhäupter aus der ganzen Welt an, vom französischen Präsidenten über die damals noch sehr zahlreichen Führer afrikanischer marxistischer Revolutionsbewegungen bis zu Jassir Arafat. Und noch im selben Sommer machten die ersten jugoslawischen Achtklässler ihre Abschlussfahrt nach Belgrad und besuchten dort das Grab des verstorbenen Führers. Machen wir uns nichts vor: Es war kein Zwang, man musste nicht mitfahren, man durfte, wenn man wollte. Alles andere wäre Geschichtsklitterung. Und beispielsweise der Autor dieser Erzählungen wollte nicht. Der Grund war denkbar einfach: Er war ein Aussenseiter, ziemlich ungesellig; ein Schulausflug hingegen war und ist ein Gemeinschaftserlebnis. Man fuhr mit dem Zug, der brauchte von Sarajevo nach Belgrad sechs bis sieben Stunden, und in dieser Zeit wurden ungeheure Mengen Alkohol konsumiert. Spätabends ging es los, gegen fünf Uhr morgens erreichte man den Hauptbahnhof der Hauptstadt, damals der hässlichste Bahnhof auf dem gesamten Balkan und darüber hinaus. Das waren fette Kater, kann ich euch sagen!

Belgrad war riesig und wuchs unaufhaltsam weiter, vergleichbar mit dem Wien der Habsburgerzeit. So wie Wien die Hauptstadt eines gewaltigen Vielvölkerreichs war, so wurde Belgrad damals als Hauptstadt eines grossen, multinationalen Jugoslawien empfunden. Ausserdem war es so etwas wie die Hauptstadt der Blockfreienbewegung. Das bunte Durcheinander von Hautfarben und Sprachen, Tausende von Studenten aus afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern, das lebhafte Treiben der Zweimillionenstadt am Tor zum Orient, erbaut an der Mündung der Save in die Donau, machten aus Belgrad etwas Wunderbares und Einzigartiges. Le Corbusier sprach von der hässlichsten Stadt am schönsten Ort Europas. Ihre Hässlichkeit fiel uns jedoch nicht auf. Oder Belgrad war zu unserer Zeit nicht mehr hässlich, weil man wie in so mancher anderen jugoslawischen Stadt vieles nach den Masstäben und Vorstellungen des grossen Visionärs hinzugebaut hatte. Nirgends hat man sich so strikt an die Dogmen dieses Erneuerers der europäischen Architektur gehalten wie im sozialistischen Jugoslawien.

Das Belgrad der neunziger Jahre war die Hauptstadt eines Landes, das fortlaufend schrumpfte, das aber auch Panzer in die ehemaligen Bruderrepubliken schickte, um diese anzugreifen. Es war eine Stadt, die man hasste, eine Stadt, die von ihren einstigen Untertanen und Wallfahrern, aber auch von Europa verachtet wurde. 1999 wurde sie von einer Koalition westlicher Verbündeter bombardiert, musste für die unvernünftige, verbrecherische Politik Slobodan Miloševićs büssen, nachdem sie durch jahrelange Wirtschaftssanktionen bereits ziemlich heruntergekommen war. Im Jahr darauf wurde Milošević gestürzt, und die ersten Nachkriegsbesucher aus den anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien reisten an. Ihr Reiseziel war grau geworden, um hundert Jahre gealtert, ruiniert und traurig, Spiegelbild einer untergegangenen Welt. Vielleicht hat Wien unmittelbar nach 1918 genauso ausgesehen.

Der anschliessende Prozess der neuerlichen Entdeckung, der Aussöhnung und des Sichverliebens zog sich über Jahre hin. In seinem Verlauf wurde es bei jungen Männern und Frauen aus Ljubljana und Zagreb schick, Silvester in Belgrad zu feiern oder informelle Klassenfahrten dorthin zu organisieren. Menschen, die zu jung sind, um sich an den gemeinsamen Staat zu erinnern, manche sind nicht einmal mehr darin geboren. Was reizt sie an Belgrad? Wahrscheinlich, dass Belgrad von all unseren Hauptstädten die einzige Grossstadt ist und sich in seinen Strassen und seiner Identität alle jugoslawischen und balkanischen Identitäten wiederfinden. Auch wenn Belgrad eine serbische Stadt ist, siebzig Jahre Hauptstadt Jugoslawiens haben sie dauerhaft zu einer Stadt aller Identitäten im Umfeld werden lassen. In Belgrad betrachten wir uns wie im eigenen Spiegel. Deswegen fahren auch die hin, die sich nicht an Jugoslawien erinnern können. Dem sich hier äussernden Reisenden und Reiseschriftsteller war Belgrad vor dem Krieg herzlich egal. Die Stadt war zu beliebt, als dass er sie hätte lieben können. Er verweigerte sich ihr, weil ein Besuch dort einer Pilgerreise gleichkam. Vielleicht wollte er deswegen nicht mit auf die Exkursion zu Titos Grab, die ihm eine lustige Zeit und ein gewaltiges Besäufnis eingetragen hätte. Es ist nicht gut, Städte zu lieben, die alle lieben. Solange er im belagerten Sarajevo lebte, in dem Granaten und Bomben detonierten, die auf das Konto der schrecklichen, in Belgrad gemachten Politik gingen – wobei, damals war er kein Reisender mehr, sondern sass in Schutzkellern fest –, hasste er die Stadt. Einmal schrieb er gar, er würde nie mehr dorthin fahren. Bis heute hat er nicht vergessen, was er damals ihr gegenüber fühlte. Und dann taten ihm die Bomben der Westkoalition weh, die auf die Stadt fielen. Er sah sie im Fernsehen, und ihm fielen die Menschen ein, die die Bomben, die auf Sarajevo fielen, nur aus dem Fernsehen kannten. Es fühlte sich nicht gut an, der Bombardierung Belgrads zuzuschauen; es war, als würde er sich nachträglich noch bei denen einreihen, die der Bombardierung Sarajevos zugesehen hatten. Schrecklich ist die Gleichgültigkeit.

Als er zum ersten Mal nach dem Krieg in die Stadt kam, hat er sich unsterblich in sie verliebt. Vielleicht war es dafür nötig, sie während der Belagerung zu hassen. Vielleicht waren seine jugendliche Gleichgültigkeit und die Weigerung, an der Klassenfahrt teilzunehmen, dafür nötig. Oder entsprach Belgrad mit seinem verwahrlosten, traurigen, grauen Charme einfach seiner Sensibilität? Dem sei, wie es sei; bis heute, fünfzehn Jahre später, ist ihm Belgrad die liebste unter den postjugoslawischen Hauptstädten, obwohl er dort nicht wohnt. Oder eher, weil er dort nicht wohnt? Wäre es mit der Liebevorbei, wenn er Tag für Tag in Belgrad aufwachte?

Zwischen Vilharjeva cesta und dem Hauptbahnhof
Ljubljana von Bežigrad aus gesehen

LJUBLJANA

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Die Hauptstadt der westlichsten und gleichzeitig reichsten Republik der Vielvölkerföderation. Hier entstand Ende der Siebziger der jugoslawische Punk. Die Musikgruppe Pankrti (Die Bastarde) brachte, angeführt von dem Soziologen Gregor Tomc und dem charismatischen, ungebärdigen Sänger Peter Lovšin, den Song «Ne računajte z nami» (Rechnet nicht mit uns) heraus und reagierte damit auf die fröhliche, stimmlich wenig anspruchsvolle und bei jedem Jahrestag der sozialistischen Revolution, jedem Jugendarbeitseinsatz und sämtlichen kollektiven Ergebenheitsbekundungen für Genosse Tito und seinen Bund der Kommunisten Jugoslawiens gesungene Hymne der sozialistischen Jugend, «Računajte na nas» (Ihr könnt auf uns zählen) von Đorđe Balašević, dem Liedermacher aus Novi Sad. Pankrti trat damit einen Skandal los, wurde zum Tagesordnungspunkt auf den Sitzungen des Zentralkomitees, altgediente Veteranen forderten die Verhaftung der Musiker, aber stattdessen oder gerade deswegen erzählte sich ganz Jugoslawien Wundergeschichten von dieser Band, immer mehr Fünfzehnj.hrige durchstachen sich die Wangen mit Sicherheitsnadeln, wie sie das auf den Fotos ihrer Londoner und Ljubljaner Vorbilder sahen, und verschrieben sich dem verführerischen Geist des Antikommunismus. Sie veräppelten die Ideale ihrer Eltern, stiessen deren Idole vom Altar, vor allem aber schwelgten sie in dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, etwas Gefährliches, etwas, für das man damals in einigen Landesteilen noch immer ins Gefängnis gesteckt wurde.

Ljubljana war die Hauptstadt ihrer Illusionen. Man reiste aus Zagreb, Belgrad und Sarajevo nach Ljubljana zu Konzerten und konspirativen Treffen mit slowenischen Gleichgesinnten. Dort wurden grosse Verschwörungen beschlossen, hektoliterweise Bier gesoffen und am nächsten Tag die schrecklichsten Kater ausgestanden. In Ljubljana probierte man zum ersten Mal verbotene Substanzen aus, von leichten bis zu verdammt schweren Drogen, man kannte kein Mass und verlor den Verstand; einigen stieg Ljubljana zu Kopf, für die Mehrheit war es eine wichtige, aber vorübergehende Erfahrung, an die man sich zeitlebens erinnerte. In Ljubljana verlor man seine Unschuld. In Ljubljana verabschiedete sich eine jugoslawische Generation von Tito und den sozialistischen Idealen.

Dabei war es eine hübsche Stadt. Ihr Zentrum wurde von einem einzigen Architekten ersonnen, geplant und ausgeführt. Er hiess Jože Plečnik, lebte von 1872 bis 1957, studierte in Graz und Wien, unter anderem bei Otto Wagner, von dem er sich aber rasch löste und zu seinem eigenen, ziemlich eklektischen Stil fand, der dennoch einen hohen Wiedererkennungswert hat. Vor dem Studium hatte er Tischler gelernt, und so beschäftigte er sich damit, den Raum vollständig durchzugestalten: vom einzelnen Stuhl über die gesamte Inneneinrichtung bis zur Stadtplanung, und so entwarf er Ljubljanas Stadtmitte samt deren Wahrzeichen, den Tromostovje: den Drei Brücken, die den Fluss überspannen. Um diese drei Brücken und Plečniks märchenhafte Vision wuchs das moderne Ljubljana und breitete sich mehr und mehr aus. Zur Zeit der Habsburger war es eine Kleinstadt am Rande eines Riesenreiches, das sich vom Nord- bis zum Südmeer erstreckte. Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts förderte die österreichischungarische Verwaltung in dem verspäteten Versuch, die slawischen Völker für ihre Sache zu gewinnen, die Entwicklung der Stadt und insbesondere ihr kulturelles Identifikationspotenzial.

Aus den anderen Reichsteilen kamen viele wichtige Leute nach Ljubljana, lebten eine Zeitlang dort und zogen dann weiter. Zum Beispiel Gustav Mahler, er war 1881/82 für eine Saison Dirigent am hiesigen Opernhaus. Im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Königreich Jugoslawien, stieg Ljubljana 1918 zu einer von drei Hauptstädten auf. Über Nacht wurde aus dem abgelegenen Provinznest fast schon das Zentrum eines neu entstandenen Gemeinwesens. Das gab der Stadt Selbstvertrauen, man merkte es am kulturellen Leben und dem slowenischen Nationalbewusstsein, nicht aber an der urbanen und architektonischen Entwicklung. Die Zwischenkriegszeit hat im heutigen Ljubljana wenig Spuren hinterlassen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Ljubljana wie der grösste Teil Sloweniens dem Deutschen Reich einverleibt, die slawische Bevölkerung wurde von da an Richtung Osten, überwiegend ins besetzte Serbien ausgesiedelt. Der deutsche Name Ljubljanas ist Laibach; 1982 benannte sich die subversivste Künstlergruppe in der Geschichte Jugoslawiens danach. Laibach war bald europaweit in aller Munde, und parallel dazu begann und endete der Zerfall der Sozialistischen Föderation Jugoslawischer Republiken. Dabei stammten die Mitglieder der Gruppe gar nicht aus Ljubljana, sondern aus dem Industrie- und Bergbaustädtchen Trbovlje.

Nach 1945 wuchs Ljubljana in die Breite. Vorstädte entstanden für die Massen an Arbeitskräften, die aus den ärmeren jugoslawischen Republiken zuzogen; in diesen Vorstädten sprossen Wohntürme aus dem Boden, gebaut von den slowenischen Jüngern und Interpreten des berühmten Le Corbusier. In den Sechzigern entwickelte sich Slowenien wirtschaftlich schneller als der Rest der SFRJ, was dazu führte, dass das Land in den Achtzigern politisch und kulturell fortschrittlicher war als die anderen Bundesstaaten. Die lebten noch in der Illusion von Titos Sozialismus mit menschlichem Antlitz, während die Slowenen bereits, geprägt vom westlichen Kapitalismus, der anderen grossen Illusion anhingen, nämlich der von bürgerlicher Freiheit und Demokratie.

Mit den Slowenen waren die Punks die ersten echten Antikommunisten in der untergehenden Förderation. Sie blieben es, bis Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger die Nationalisten aus ihrer antikommunistischen Haltung heraus im ehemaligen Jugo- slawien Krieg anzettelten und in der Folge einzelne ideologische Begriffe im Leben und in den Sprachen der Balkanbevölkerung einen ganz neuen Sinn bekamen.

Heute ist Ljubljana eine stille, ruhige, sehr aufgeräumte und saubere Stadt, deren Lebensrhythmus und Atmosphäre sich kaum von anderen west- und mitteleuropäischen Städten unterscheidet. Die Spuren der Punks fallen nur den Archäologen der Erinnerung und den Paläontologen der jugoslawischen Geschichte auf. Paradox genug: Weil Ljubljana heute Hauptstadt eines Mitgliedstaats der EU ist, liegt es wieder am Rande und der Peripherie, nicht anders als zu Zeiten Franz Josefs I. Der Brennpunkt, in dem sich die umstürzlerischen Träume der letzten jugoslawischen Generation fokussierten, ist weit abgeschlagen. Geblieben ist nur die Architektur von Jože Plečnik.


Morača von der Milenijum Most (Millennium-Brücke) aus gesehen
Toranj na Dajbabskoj Gori (Dajbabska-Gora-Turm), Architekt Zoran Sekulić, 2011
Vlado Knežević, 15.5.2014, Dajbabe,

PODGORICA

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Historisch gesehen war Cetinje der montenegrinische Regierungssitz, ein winziges, sehr stimmiges Städtchen mit der vollständigen Infrastruktur eines alten Königreichs: Schloss, Residenz, Botschaften und Konsulate aus dem 19. Jahrhundert. Doch 1945, nach dem Sieg über den Faschismus, an dem die Montenegriner als kleinstes der jugoslawischen Völker proportional gesehen den grössten Anteil hatten, wurde Podgorica per Dekret zur Hauptstadt der neu gegründeten Sozialistischen Republik Montenegro ernannt. Im Gegensatz zum alten Regierungssitz in den Bergen hat der Ort, der in einer Ebene liegt, genügend Platz, um sich auszubreiten. Und da er durch Luftangriffe der Alliierten – aus unerfindlichen Gründen wurde Podgorica nächst Zadar von allen jugoslawischen Städten am heftigsten bombardiert – nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden war, begann der Wiederaufbau buchstäblich bei Null. Vom alten Podgorica mit dem türkischen Basar ist praktisch nichts erhalten geblieben.

Nicht nur, dass die Montenegriner sie neu aufzubauen beschlossen, sie gaben der Stadt sofort auch einen neuen Namen: Ab dem 1. August 1946 hiess sie Titograd, und das blieb so bis 1992, bis sie nach dem Zerfall Jugoslawiens per Volksentscheid wieder ihren alten Namen bekam. 1946 hatte das zerstörte, verwüstete Titograd kaum fünftausend Einwohner. Sechzig Jahre später sollten es hundertfünfzigtausend sein.

Die Stadt hat weder Hauptplatz noch eine klar erkennbare Mitte, sie ist ein wildes, urbanistisches Konglomerat bar jeder Schönheit. Was schon deshalb ziemlich schräg ist, weil sie die Hauptstadt der kleinsten und schönsten Republik in der ehemaligen Föderation ist.

In Podgorica fällt nur ganz selten Schnee, weil sich die Ebene zu dem warmen mediterranen Klima hin öffnet, während es in Cetinje, kaum vierzig gemütlich gefahrene Autominuten entfernt, so heftig schneien kann, dass das Städtchen in früheren Epochen oft vom Rest der Welt abgeschnitten war. Nirgends liegen Sommer und Winter so nah beieinander wie in dieser Gegend.

Titograd war während der Sommermonate immer die heisseste Stadt des ehemaligen Jugoslawiens. Wenn die Temperaturen in Sarajevo, Zagreb und Belgrad um die 30 Grad lagen, waren es in Podgorica 40 Grad. Die Luft war trocken, die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern und gingen erst am Abend spazieren, wenn die Hitze erträglich wurde.

Auch in Friedenszeiten gab es im Staat der Vielvölkerverständigung Vorurteile gegenüber den einzelnen Völkern. In der Regel waren diese Ausdruck eines negativen, ironischen Selbstbildes. So bezeichneten sich die Bosnier selbst als dumm, die Montenegriner als faul. Wie in fast allen Vorurteilen steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit (behauptet der Autor dieses Textes, der seiner Geburt und inneren Überzeugung nach – Bosnier ist). Die Montenegriner waren traditionell Krieger und hatten eine unglaubliche Begabung zum Plaudern und Geschichtenerzählen. Das verlieh Podgorica seinen unvergleichlichen Charme: Man fuhr dorthin, um die Leute reden zu hören und ihre Schnurren zu geniessen.

Montenegro ist ein kleines Land voll gross gewachsener Menschen. In jugoslawischen Statistiken wurde stets betont, die Montenegriner seien im Schnitt 1,90 Meter gross und damit das grösste Volk Europas. Wer weiss, ob das stimmt. Es gab in Jugoslawien das leidenschaftliche Bedürfnis, sich Dinge auszudenken, in denen die Jugoslawen die grössten, stärksten, ältesten, klügsten, dümmsten, besten, schlimmsten etc. waren. Und die Montenegriner waren bei diesen Selbstverherrlichungen natürlich begeistert mit dabei.

Während der neunziger Jahre blieb Montenegro vom Krieg verschont, so dass Podgorica im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Das hatte auf Besucher aus den anderen Teilen des ehemaligen Staates eine interessante Wirkung, die auch die anderen Europäer spürten, welche die Stadt um die Jahrtausendwende bereisten. Abgesehen davon, dass man den Eindruck hatte, in ein ziemlich abgelegenes Land geraten zu sein (nicht zuletzt wegen der schlechten, kaputten Gassen, Wege und Straßen aus der Zeit des Königreichs), es war ein bisschen wie Zeitmaschine: Rückkehr in die achtziger Jahre, in den jugoslawischen Sozialismus. Noch heute hat sich Podogorica etwas von diesem Retro-Schick bewahrt.

Als der Autor dieser Zeilen nach dem Krieg zum ersten Mal mit dem Auto in die montenegrinische Hauptstadt fuhr, wurde ihm über Nacht das Nummernschild geklaut. Natürlich wird er nie erfahren, wer es geklaut hat, und es ist ihm bis zum heutigen Tag ein Rätsel, warum es geklaut wurde. Was will man in Podgorica mit einem Zagreber Nummernschild? Natürlich gibt es eine Antwort auf diese Frage, aber wie findet man sie? Seit nunmehr fünfzehn Jahren fährt der Autor mindestens einmal pro Jahr mit dem Auto nach Podgorica, besucht Freunde, geniesst dort Küche und Landschaft und hofft immer noch, dass ihm einer die Geschichte mit dem geklauten Nummernschild erklärt. Das wird eine aufregende Geschichte werden, es wird lange dauern, sie zu erzählen, denn der Erzähler wird bis an den Anfang zurückgehen, und der Anfang liegt in allen montenegrinischen und podgorischen Erzählungen länger zurück, als es Automobile mit Nummernschildern gibt, reicht tief bis in die Zeiten vor unseren Urgrossvätern. In Podgorica ist die balkanische Variante des magischen Realismus Südamerikas zu Hause. Kein Wunder, dass sich Gabriel García Márquez so stark für Montenegro interessierte, der in den siebziger Jahren einmal Dubrovnik besuchte. Schade, dass Márquez’ Gastgeber ihm weder Cetinje noch Podgorica zeigten; die Entfernung ist nicht so gross. Vielleicht wäre er für immer dort geblieben.

PRISHTINA

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Im Frühmorgen des Jahres 1981 warf ein Student – die Geschichte hat sich seinen Namen nicht gemerkt – in der Mensa der Universität von Priština sein Tablett absichtlich hin und das Essen flog auf den Boden. Der Vorfall könnte am Anfang eines historischen Romans über den Zerfall Jugoslawiens stehen, markiert er doch den Anfang von dessen Ende. Die Folgen der unbeherrschten, wer weiss wodurch ausgelösten Handlung (abgesehen von dem entsetzlich schlechten Mensaessen) dauern bis heute an, entwickeln und verzweigen sich fort und bestimmen den Alltag von Generationen von Ex-Jugoslawen, ob sie nun in Priština, an anderen Orten des ehemaligen Staates oder irgendwo in der grossen weiten Welt wohnen. Auch das Leben eines Mannes in mittleren Jahren, der gerade jetzt, wo Sie diese Zeilen lesen, in der Zürcher Innenstadt auf einem Zebrastreifen die Strasse quert und dem keiner ansieht, dass er in einem untergegangenen Land aufwuchs, ist von jenem Tablett geprägt, das Anfang März 1981 in der Prištinaer Mensa auf den Fussboden knallte.

Andere folgten seinem Beispiel, schmissen ihrerseits die Tabletts hin, verzweifelt, weil sich trotz vieler Beschwerden nichts an der Qualität des Essens änderte. Irgendjemand informierte die Polizei, auch sein Name ist vergessen, die Polizei intervenierte ziemlich brutal, mehrere Studenten mussten mit auf die Wache und wurden zusammengeschlagen, was einen neuerlichen Zwischenfall auslöste, der diesmal nichts mit Essen zu tun hatte, sondern mit der überzogenen Härte der Ordnungshüter, die daraufhin noch härter durchgriffen... Und so schaukelte sich die Sache hoch und mündete einige Monate später in einer Protestbewegung, auf die der Staat bereits im Sommer 1981 mit Terror reagierte, Massenverhaftungen und Verurteilungen zu langjährigem Freiheitsentzug inklusive, die Anklage lautete stereotyp auf konterrevolutionäre Tätigkeit und Seperations- bestrebungen. Über dem Kosovo wurde der Ausnahmezustand verhängt und bis zum Untergang Jugoslawiens und den damit verbundenen Kriegen faktisch nicht mehr aufgehoben. Jahrelang schickten sämtliche Republiken Spezialeinheiten ihrer Polizei, welche wie eine Parodie auf Einheit und Brüderlichkeit mit den albanischen Aufständischen abrechneten. Sie erhoben sich lange Zeit friedlich, folgten dem Beispiel Gandhis. Es entstanden Parallelinstitutionen in Bildungswesen und Politik, die Albaner lebten isoliert im Untergrund, den Augen Jugoslawiens verborgen, das noch etliche Jahre in seiner titoistischen, sozialistischen Idylle schwelgte und sich keine Gedanken machte, wie es den Menschen in Priština erging.

Die Stadt hat keinen Fluss, ist hässlich und grau, die Masse der Bausubstanz stammt aus jugoslawischer Zeit. Aus dem orientalischen Nest, das vor dem Zweiten Weltkrieg ein paar Zehntausend Köpfe zählte, wurde bis 1981 eine unharmonische, nicht restlos urbanisierte Grossstadt mit rund zweihunderttausend Einwohnern, zu achtzig Prozent Albaner, die Serben stellten gerade einmal 15 Prozent. Während der bleiernen Achtziger wurde die serbische Minderheit offiziell privilegiert und inoffiziell terrorisiert. Partei und Staatsführung erlegten den Albanern die Apartheid auf, und die Albaner, natürlich nicht alle, rächten sich dafür an den Serben in der Provinz. Auf der einen Seite der Hauptstrasse gingen die Albaner spazieren, auf der anderen die Serben. Wechselseitige Begegnungen, Verständigung, Zusammenleben – Fehlanzeige. Ein stiller Vernichtungskrieg.

Viele Albaner gingen in der Tracht ihrer Altvorderen aus dem Haus, fast alle Männer setzten das weisse Käppi auf (Keçe, Qeleshe, Plisi ...). Manche hatten nie etwas anderes getragen, weil sie vom Dorf kamen, andere trugen sie aus Protest. An jeder Strassenecke standen bis an die Zähne bewaffnete Spezialkräfte der Polizei. In Priština lebte man wie im Gefängnis. Die meisten Jugoslawen schauten da lieber weg. Abgesehen von den Polizisten fuhr kaum jemand aus Belgrad, Zagreb, Ljubljana, Sarajevo dorthin ...

Der Autor dieses Textes war im Lauf der Achtziger drei Mal im Kosovo. Einmal als Oberschüler, einmal als Student, und das dritte Mal kurz vor dem Zerfall des Landes als Journalist. Er erinnert sich an das riesige Hotel Grand im Stadtzentrum, in dem wie im Film «Casablanca» zweifelhafte Gestalten aus allen Himmelsrichtungen verkehrten, und hat sich damals lebenslänglich in die Universitätsbibliothek verliebt, erbaut in den Siebzigern nach Plänen des Zagreber Architekten Andrija Mutnjaković. Das ungewöhnliche Gebäude ähnelt einem Bienenstock und wird für den, der diese Zeilen schrieb, auf immer Symbol einer wünschenswerten, leider irrealen Welt sein, in der sich Identitäten zwischen Bücherregalen und nicht in Schützengr.ben herausbilden. Im Sommer 1990, unmittelbar vor der Abreise aus Priština, besuchte er die Bibliothek noch einmal und stand lange davor. Die Stadt sollte er erst fünfundzwanzig Jahre später wiedersehen.

Während der Militäroffensive 1998/99 wurden unzählige Albaner aus ihrer Heimat vertrieben. Sie kehrten nach der Bombardierung Serbiens und Montenegros durch die Nato und der bizarren Kapitulation von Miloševićs Regierung zurück, mit der das Kosovo und Priština unter die Verwaltung der internationalen Gemeinschaft kamen. Fünf Jahre später, 2004, wurden ungeachtet ihrer auf dem Papier garantierten Sicherheit die meisten Serben aus den meisten Landesteilen vertrieben. Heute leben noch ganze sechzig in Priština: der Pope, seine Familie und ein paar andere.

Das also ist nach aktuellem Stand der letzte Nachhall eines Tabletts voll ungesalzenem Erbsenpüree und vergammeltem Rote-Bete-Salat. So ist das auf dem Balkan, ein scheinbar marginaler Vorfall führt in den allgemeinen Untergang. Aus eben diesem Grund könnten normale Menschen durchaus den Eindruck haben, es hätte ganz anders und viel besser laufen können.

Eines Tages wird Priština eine schöne, ruhige und von der Sonne verwöhnte Stadt sein, in der wieder Menschen verschiedener Nationen und Religionen leben. Auf die Ernährung der Studenten wird dann peinlich geachtet werden. Man wird in der Mensa besser essen als im teuersten Restaurant der Stadt.

SARAJEVO

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Gemäss der letzten Volkszählung vor dem Krieg hatte Sarajevo 416 497 Einwohner. Darunter waren meine Mutter und mein Vater, Onkel und Tante, und ich. Ich zähle nicht mehr mit, weil ich im Sommer 1993 wegging und nicht zurückgekehrt bin. Inzwischen ist klar, dass es dabei bleiben wird, obwohl ich nach dem Krieg, bis Ende 2012, mit einem gewissen Bedauern von meiner Geburtsstadt weg- und in die Stadt fuhr, in der ich seit inzwischen über zwanzig Jahren wohne. Dann, kurz vor Schluss, erlosch diese Sehnsucht, ich konnte es kaum erwarten, nicht mehr nach Sarajevo fahren zu müssen. Mich herausgerechnet bleiben Sarajevo also 416 496 Einwohner. In dem scheusslichen Winter 1998 starb mein Onkel, am 31. Januar 2010 mein Vater, im Frühjahr 2012 meine Tante und am 2. Dezember 2012 meine Mutter. Berücksichtigt man all diese Toten in der Stadtbilanz, hat Sarajevo noch 416 492 Einwohner. Und keiner von ihnen ist mit mir verwandt. Die ganze Familiengeschichte ist umgezogen auf den Friedhof. Ich besuche ihre Gräber nicht, zünde keine Kerzen darauf an, lege keine Blumen auf ihnen ab. Es sind Gräber von Menschen, die keine Verwandten in Sarajevo haben, schmutzig, verwahrlost, trostlos. Gräber gewesener Leute.

Kein Ort ist dem Menschen fremder als die eigene Geburtsstadt, wenn einen von ihr ein ganzer Krieg und eine Reihe von Nachkriegstoten trennt. Ich weiss nichts über Sarajevo, auch wenn ich die Strassen kenne, ihre jetzigen und früheren Namen weiss, ihren Geruch noch in der Nase habe, mich an viele Adressen erinnere. Ich weiss nichts über Sarajevo, das sage ich mir jedes Mal, wenn ich mich vor der Stadt schützen will. Und das will ich dauernd. Wenn es möglich wäre, würde ich vergessen, wo ich geboren bin. Wenn es möglich wäre, würde ich meinen Geburtsort in meinen Papieren ändern. Wenn es nach mir ginge, stünde in denen, ich sei auf einem Schiff geboren, das im Mittelmeer unterwegs war, durch die Strasse von Otranto fuhr. Aber das ist wohl nicht erlaubt. Der Mensch ist dazu verurteilt, lebenslänglich seine Stadt auf den Schultern zu tragen. Jeder Mensch ist Atlas.

Am Sonntag, dem 28. Juni 1914, kurz vor elf Uhr morgens, erschoss Gavrilo Princip – wir haben dieselbe Schule besucht – den österreichischen Thronfolger und dessen Frau. Wäre ich dabei gewesen, wäre ich nicht rund siebzig Jahre zu spät am Appel-Kai gestanden, wo die Schüsse fielen, ich hätte meinen Klassenkameraden wohl nicht davon abzuhalten versucht. Aber es ist schon schade, dass ich mich nicht ein bisschen beeilt habe, ich hätte gern gewusst, ob ich in der Situation tatsächlich so gehandelt hätte. Selbst geschossen hätte ich wohl kaum, mir fehlen der Mut und das Geschick im Umgang mit Waffen, und ich mag das Morden nicht leiden, aber ich glaube, ich hätte aus ganzem Herzen zu Gavrilo gehalten. So war das damals, ganz Europa wimmelte von begabten Attentätern, verkannten Dichtern, die schossen auf Kaiser, Minister, Präsidenten, Generäle ... Aber dann ging alles schief. Alles wäre besser gewesen, als dass Gavrilo auf die beiden schoss. Die Schüsse hallten lange nach, bis heute hallen sie nach. Mein Verschwinden aus Sarajevo geschah in einem solchen Nachhall von Gavrilos Schüssen. Auch das ist inzwischen mehr als klar.

Sarajevo ist eine Stadt, die wie kaum eine zweite auf der Welt die Zeitläufe widerspiegelt, die Epochen, Baustile, Irrglauben ... all das war dort mit blossem Auge zu sehen, ist es vielleicht noch heute. Dazu kann ich nichts sagen, weil ich mir Mühe gebe, nicht hinzuschauen, Sarajevo zu ignorieren. Die an den Hang gebauten Stadtviertel beherbergen die Reste der alten osmanischen Baukultur. Österreich-Ungarn hat das moderne, europäische Sarajevo errichtet, auf zweierlei Weise: konservativ, in demselben Stil, den man in Wien, Graz, Zagreb, Novi Sad, Lemberg und anderen Städten antrifft, die unter Franz Josef einen Entwicklungsschub erlebten, und in dem einigermassen monströsen, eklektischen und märchenhaften pseudomaurischen Stil, eine eigentümliche Imitation von Istanbul, Córdoba, Bagdad oder Kairo, mit der sich die Besatzungsmacht bei Einheimischen einschmeicheln wollte. Auf das Konto des sozialistischen Jugoslawien geht das Beton-Sarajevo, abgesteckt von den Jüngern Le Corbusiers; manche wie Juraj Neidhardt haben regelrecht bei ihm studiert, andere standen lediglich in seinem Bannkreis, aber die meisten dieser im Grunde begabten Architekten waren bestrebt, den funktionalen Modernismus mit etwas zu verbinden, was den Traditionen der städtischen Bevölkerung Sarajevos und Bosniens entsprach. Und zuletzt, nachdem der Krieg in den Neunzigern über die Stadt gekommen war und ihr Gesicht in jeder Hinsicht entstellt hat, begann die Ära einer ungezügelten Bauwut, Ausdruck der Transition von einer Gesellschaftsform in die andere; seither verliert Sarajevo immer mehr die Fasson und seine architektonische Besonderheit.

Einst reiste man mit dem Zug in die Stadt. Der Bahnhof ist kein Durchgangsbahnhof, wie die meisten in der Donaumonarchie oder überhaupt im modernen Europa gebauten Bahnhöfe, sondern ein Kopfbahnhof. Eisenbahnerisch gesprochen erreicht der Reisende also in Sarajevo das Ende der Welt. Oder deren Anfang. Wenn ich mir Sarajevo ausmale, wenn ich es mir erträume – und die meisten, fast alle meiner Träume spielen bis heute in Sarajevo –, ist der Bahnhof mein Ausgangspunkt. Und sei es heute noch so schwierig: Wer Sarajevo besuchen will, muss mit dem Zug in die Stadt kommen. Und sie auf dieselbe Art wieder verlassen.

SKOPJE

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Sehr früh am Morgen des 26. Juli 1963, einem Freitag, wurde Skopje von einem verheerenden Erdbeben erschüttert. Über tausend Menschen starben, zweihunderttausend verloren das Dach über dem Kopf, rund achtzig Prozent der Stadt lagen in Trümmern. Es war die Zeit des Kalten Krieges und der internationalen Solidarität, Titos Jugoslawien genoss in Ost wie West Ansehen, und so wetteiferten Staaten und berühmte Einzelpersonen darum, wer der zerstörten Stadt als Erster zu Hilfe eilte. Der namhafte japanische Architekt Kenzo Tange stiftete einen umfassenden Entwurf für den Wiederaufbau, der leider nur zum Teil angenommen wurde, aber auch in dieser unvollständigen Form macht er die Stadt zu einem der architektonisch interessantesten Orte Osteuropas. Das wiedererstandene Skopje bestach seine Besucher aus dem übrigen Jugoslawien nicht allein durch Schönheit, es wirkte in den siebziger und achtziger Jahren wohl wie ein neues, niemals getragenes Paar Schuhe auf sie. In Skopje war alles neu und nur fast fertig, sogar die osmanische Altstadt oder die Viertel, die vorgaben, aus früheren Epochen zu stammen. Die neue Stadt brauchte Zeit, um zu altern. Und nichts lässt eine Stadt so schnell altern wie Krieg, Wirtschaftskrisen und Diktatoren. Skopje bekam den Krieg zu spüren – Anfang des neuen Jahrtausends zwischen Mazedonen und mazedonischen Albanern –, es bekam auch die ökonomische Krise zu spüren, der Kelch der Diktatur ging zum Glück an der Stadt vorüber. Nicht jedoch der auf dem Balkan grassierende Nationalismus, der sich in einer Reihe nagelneuer, grotesker Denkmäler für berühmte Mazedonen von Alexander dem Grossen und dessen Vater Philipp bis zu Partisanen und Staatsgründern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigt. Optisch ist Skopje heute eine Mischung aus Kenzo Tange und vergoldetem Kitsch. Die Kombination ist irgendwie wildromantisch-balkanisch, tragisch und unerträglich charmant.

Eins kann man in Skopje wie nirgends sonst auf der Welt: essen. In kleinen, unscheinbaren Restaurants, die von aussen an die Bretterbuden in Mumbai erinnern, treibt einem die Vielfalt der Aromen Tränen der Dankbarkeit in die Augen. Auf der Speisekarte steht wie überall auf dem Balkan Fleisch, aber was für welches! Nirgends schmecken Paprika, Tomaten, Auberginen so gut wie hier, kein Ajvar der Welt kann sich mit dem von Skopje messen. Dazu trinkt man einen schweren Rotwein aus der Vranac-Rebe, den die Mazedonen mit einer Anleihe bei Konstantin Miladinov (1830–1862) und dessen so betitelten romantischen Gedicht «T‘ga za jug» (Sehnsucht nach Süden) tauften. Der Name passt zu dem Wein.

Einer der grössten Vororte Skopjes heisst Šuto Orizari, kurz Šutka, und ist die grösste Roma-Siedlung Europas, urban und dörflich zugleich. Dort wohnen unvorstellbar reiche und bettelarme Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft, Menschen mit herrschaftlichen Villen aus Beton, wie abgepaust aus mexikanischen oder indischen Soaps, und Menschen, die sich Abend für Abend eine neue Schlafstatt aus Kartons basteln. Dort leben Zigeuner glücklich und unglücklich und total anarchisch mit ihrem ganzen folkloristischen Gepränge. Es gibt auf der ganzen Welt keinen zweiten Ort wie Šuto Orizari.

In Skopje gehen die Uhren langsamer, keiner hat es hier eilig, keinen zieht es allzu rasch dorthin zurück, von wo er aufgebrochen ist. Es ist die ärmste unter den ehemaligen Hauptstädten Jugoslawiens, diejenige, die am weitesten von Europa entfernt ist. Eine Stadt am Abgrund, kurz vor der Katastrophe, wie mit dem Messer gezogen die Demarkationslinie zwischen dem grösseren mazedonischen und dem albanischen Teil, wobei es zwischen beiden praktischen keinerlei Austausch gibt. Und gleichzeitig fühlt man sich nirgends so wohl wie in Skopje. Die ganze Stadt ist darauf ausgerichtet, dass es einem gut geht, man sich glücklich fühlt und die verbleibende Zeit bis zur Apokalypse in vollen Zügen geniesst, ganz wie im Film. Falls eines Tages das Datum des Weltuntergangs feststehen sollte, die Stunde, zu der ein schwarzes Loch die Erde verschlingt oder Gottes Zorn sie in Flammen aufgehen lässt, dann ist Skopje die ideale Touristendestination, um das Jüngste Gericht zu erwarten. Himmel und Hölle gleichermassen ähnlich, ist diese Stadt eine Metapher des menschlichen Herzens.

ZAGREB

von Miljenko Jergović
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert

Der Zahl ihrer Einwohner nach ist Mamutica – die Mammutdame – der grösste Wohnblock von Ex-Jugoslawien und einer der grössten von ganz Europa. 1974 erbaut, beherbergt er 1169 Wohnungen mit derzeit rund fünftausend Bewohnern. Đuro Mirković, der Architekt, hat die gigantische Anlage mit einem grossen, sehr belebten Platz und der fast kompletten Infrastruktur vom Kindergarten über Schule, Post, Banken und einem kleinen Einkaufszentrum bis hin zum nie realisierten Jugendkulturtreff als eigenständige, abgeschlossene Stadt geplant. Im Gegensatz zu den Vorgaben im sowjetischen und osteuropäischen sozialen Wohnungsbau haben die Mieter in der Mamutica wie überhaupt in Neu-Zagreb einen ziemlich hohen Wohnwert, es sind komfortable, schöne, geräumige, gut geschnittene Wohnungen mit viel Tageslicht, unvorstellbar in den vierzig Jahre später errichteten Blocks der Transitionsära mit ihrer gesichtslosen Architektur. Der Fotograf dieser Bilder hat wichtige Jahre seines Lebens in der Mamutica verbracht.

Sie ist die grösste von etlichen Hundert Wohnblöcken und Hochhäusern mit maximal zwanzig Stockwerken, die streng nach Plan zwischen 1965 und 1989 gebaut wurden und Novi Zagreb bilden, das sich links der Save erstreckt. Sie stehen im Grünen, diese Wohnblöcke, als seien sie inmitten von Parks aus dem Boden geschossen, und sie gehören zu den schönsten, wenn auch nicht mit letzter Konsequenz gepflegten und erhaltenen Neubausiedlungen in Südosteuropa.

Rechts der Save liegt das alte Zagreb, es geht im Wesentlichen auf das 19. und anbrechende 20. Jahrhundert zurück, eins von vielen verschlafenen Nestern am Rande der Monarchie, ein Zentrum von bis in die jüngste Zeit höchstens lokaler Bedeutung. Auch wenn sich in der Altstadt so manche architektonische Perle findet und manches Viertel mit einer authentischen Atmosphäre aufwarten kann, eine Idee von Urbanität vermittelt, überwiegt doch eine zutiefst provinzielle Anmutung. Im Unterschied zu Plečniks Ljubljana hat das alte Zagreb keine zugkräftige stilistisch-visuelle Identität, im Unterschied zu Sarajevo oder Belgrad ist es eine ausgesprochen monokulturelle Stadt, ausschliesslich geprägt von den Jahrhunderten unter Wiener Verwaltung und von der österreichischkroatischen Tradition.

Zwischen den beiden Stadtteilen, oder vielmehr: zwischen diesen völlig unterschiedlichen Städten fliesst die Save. Da sie vor dem Bau der Deiche (ungefähr ab 1965) regelmässig ihr Bett verliess und Zagreb jeden Frühjahr und Herbst überschwemmte, wurden die Ufer nicht bebaut, was bei einem Besucher den Eindruck erwecken könnte, die Stadt sei vor ihrem Fluss auf der Flucht. Noch heute trennt die Save eher zwei verschiedene Städte, als dass sie die beiden zu einem einzigen Zagreb vereinte.

Zu jugoslawischen Zeiten waren Belgrad und Zagreb Konkurrentinnen. Nein, damit ist nicht der Wettkampf um den Titel der grössten Nation oder zwischen zwei Nationalismen gemeint, keine Rede, das kam erst später. Die beiden Städte erkannten sich in der jeweils anderen wieder, so wie sich der Westen im Osten spiegelt und umgekehrt. Da sie für verschiedene Prinzipien und Mentalitäten standen, fanden sie in ihrem Widerpart das, was sie in sich nicht finden konnten. Wie ein jugoslawisches Yin und Yang, und dann verschwand alles mit den Kriegen, und mit dem Nationalismus verschwand auch jedes Bedürfnis, sich im anderen zu betrachten.

Der Autor dieser Zeilen kam aus Sarajevo nach Zagreb. Das war während des Krieges und nicht als Dauerlösung gedacht, aber die Geschichte zog sich in die Länge und am Ende wurden aus ein paar Wochen oder Monaten das ganze Leben. Zweiundzwanzig Jahre werden es bald, dass der Autor in Zagreb wohnt, länger als zuvor an jenem anderen Ort, und trotzdem kennt er das Zagreb aus der Zeit vor dem Krieg, in dem er nie gelebt hat, besser als das, in dem er heute lebt. Vielleicht liegt der Grund darin, dass sich das heutige Zagreb nicht mehr in anderen Städten spiegelt. Oder ist es, weil er, der hier lebt, sich nicht in anderen Menschen spiegelt? Wer wäre in der Lage, das zu entscheiden ...

Es ist dies die Stadt der schönen, grossen Wochenmärkte. Der schönste von allen, der Dolac, ist der schönste Wochenmarkt Südosteuropas. Wer über ihn schlendert, den berauscht die Bedeutung des Ortes, eines Ortes voller Identität, eines Fleckens mit hohem kulturellem Wiedererkennungswert, nicht anders als das Wiener Burgtheater, der Louvre oder das Opernhaus von Sydney. Seele und Würde dieser Stadt gehen also durch den Magen. Und das ist nun wirklich nichts Schlechtes.


DIE ANSICHTEN DER «GENERATION YU»

von Andreas Ernst

Die beiden Autoren dieser Stadtportraits gehören zur letzten Generation, die im titoistischen Jugoslawien erwachsen wurde. Als sich 1990 der Verfall des Landes gefährlich beschleunigte, war Miljenko Jergović 24 Jahre alt, Goran Potkonjak nur zwei Jahre jünger. Man könnte die beiden als Vertreter einer «Generation YU» bezeichnen und damit eine Altersgruppe umschreiben, die über ganz Jugoslawien hinweg lebensweltlich und kulturell vieles verband. Zum Beispiel die Musik von Bijelo Dugme aus Sarajevo, oder die «neue Welle», die zu Beginn der 1980er Jahre die Musikszenen aufmischte. Diese Generation konsumierte in einem gemeinsamen Musik- und Literaturmarkt, trug die gleichen, meist aus Italien stammenden Jeans und begeisterte sich für den Basketball und den Fussball ihrer erfolgreichen Nationalmannschaften. Wer dieser Generation angehörte, hatte ein Schulsystem durchlaufen, das ähnliche Werte vermittelte, war Mitglied bei den Pionieren, dem Jugendverband «Omladinci» und konsumierte Medien mit vergleichbaren Inhalten – egal, ob er in Sarajevo, Zagreb oder Belgrad wohnte.

Der Krieg brach über das Land und diese Generation herein wie eine Naturkatastrophe. Jergović zieht den Vergleich mit einem Erdbeben, das die Bürger aufschreckt und auf die Strasse treibt. Sie versammelten sich dort, nicht weil sie Veränderungen wollten, mehr Demokratie, mehr Parteien oder mehr Pressefreiheit: Die 1980er waren ohnehin Jahre einer liberalen Öffnung des Systems, wovon allerdings jene am meisten profitierten, die es wenig später im Zeichen des Nationalismus wieder schlossen. Nein, die Bürger gingen auf die Strasse, weil ihnen die politische Elite erfolgreich den Schrecken vor den Nachbarn eingejagt hatte. Dieser Zerfall wurde oben eingefädelt, in einer Gesellschaft, die es gewohnt war, den Mächtigen zu glauben oder wenigstens zu gehorchen. Der Widerstand sowohl gegen den völkischen Nationalismus als auch gegen die kriegstreiberische Rolle der Kirchen blieb schwach, weil die Schicht der aufgeklärten Bürger schwach war. Die Modernisierung des Landes war nicht genügend weit fortgeschritten, um der Produktion von Feindbildern einen alternativen Gesellschaftsentwurf entgegen zu halten. So kam der Krieg.

Goran Potkonjak ging weg. Er verliess Zagreb 1991, emigrierte über Irland in die Schweiz, begann eine eindrückliche Karriere als Fotograf und Musikveranstalter und lebt heute in Zürich. Miljenko Jergović harrte bis 1993 im belagerten Sarajevo aus, spielte zeitweise mit dem Gedanken, in den Westen auszureisen, liess sich dann aber in Zagreb nieder. Schon damals ein bekannter Schriftsteller, blieb er seinem Sprachraum treu und lebt seither in der kroatischen Hauptstadt. Wie unterschiedlich zwei Emigranten die Städte ihres untergegangenen Landes portraitieren, wie verschieden die Blickwinkel und Standpunkte sind, zeigen die vorangehenden Seiten. Die Differenzen sind, wie wir sehen werden, nicht nur dem unterschiedlichen Medium, der Sprache, der Fotografie geschuldet. Und es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Eine davon, so scheint mir, liegt in der schmerzhaften Zuspitzung, welche die Bilder und Erinnerungen an die jeweilige Heimatstadtbeinhalten: Potkonjaks Zagreb und Jergovićs Sarajevo. Das überrascht nicht, denn dieser Abschied war nicht freiwillig. Man brach nicht auf für eine Karriere oder aus Neugier oder Überdruss. Es war der Krieg, es waren die Feinde und vielleicht auch das Verschwinden der Freunde, welche den Aufbruch erzwangen. Beide, der Schriftsteller und der Fotograf, wurden weg getrieben.

Die damit verbundene Verletzung wendet den Blick ins extrem Subjektive. Wenn Potkonjak, fast zwanzig Jahre nach dem erzwungenen Abschied, seine Kamera auf die Heimatstadt Zagreb richtet, entstehen merkwürdige Bilder. Man sieht viel Brachland, braune Felder unter fahlem Himmel, menschenleere Flächen, triste Strassenzüge und heruntergekommene Wohnblocks. Einer der wenigen Farbtupfer, wo es dem Betrachter ein bisschen warm ums Herz wird, sind drei kleine Punks, die schüchtern und etwas trotzig ihre farbigen Haarsträhnen präsentieren. Erinnern sie Potkonjak – ausnahmsweise nostalgisch – an seine Jugend? Es fehlen, wie auch bei seinen andern Stadtportraits, die Wahr- und Erkennungszeichen, der Ban-Jelačić-Platz beispielsweise, die Altstadt, die bürgerlichen Wohnquartiere. Es fehlen überhaupt Punkte, an denen sich das Auge festhalten möchte. Ist das noch Melancholie oder schon die Wut des Verstossenen, dem vieles fremd geworden ist in den Jahren? Ein Blick zurück im Zorn? Als eine scheue Katze kann man sich den Fotografen vorstellen, die auf leisen Pfoten durch die Stadt schleicht, den Menschen ausweicht und genau, aber ohne Interesse hinschaut. Worin bestünde ihre Beute?

Auch Jergovićs Blick auf Zagreb ist nicht besonders liebevoll. Er lobt zwar die Qualität des titoistischen Wohnungsbaus in der Neustadt, mit Häuserblöcken, die trotz ihrer Monumantalität das menschliche Mass bewahren. Aber das Provinzielle der Stadt geht ihm auf die Nerven. Nicht ihre historische Spielart, die sich in der österreichischkroatischen Tradition äussert: den Verwaltungs- und Repräsentationsbauten, welche die k.u.k. Monarchie in ihrer Randprovinz errichtete. Was ihn stört ist die gewollte Monokultur und die damit verbundene Vorstellung, «europäischer» zu sein. Anders als früher beziehen sich Zagreb und Belgrad nicht aufeinander und ergänzen sich auch nicht mehr. Die konkurrierenden Schwestern haben sich voneinander abgewandt. Zagreb, findet Jergović, sei selbstgenügsam und damit irgendwie bieder. Aber stimmt das? Vielleicht sind heute München, Triest oder Graz die Städte, in denen sich Kroatiens Kapitale spiegelt? Jergović räumt ein, dass er das Zagreb, in dem er seit zwei Jahrzehnten lebt, viel weniger kennt, als jenes vor dem Krieg. Einsamkeit? Nostalgie?

Seine Heimatstadt ist Sarajevo, oder besser: war Sarajevo, und hier wird es ernst. Bis vor ein paar Jahren plagte ihn eine gewisse Sehnsucht nach Sarajevo. Besuche konnten sie nicht stillen. Diese Sehnsucht starb mit der Mutter 2012 und zur Trauer gesellte sich Erleichterung, nicht mehr dorthin fahren zu müssen. Wenn Jergović schreibt: «Ich weiss nichts über Sarajevo», wenn er sich wünscht, auf einem Schiff in der Adria geboren zu sein, wenn fast alle seiner Träume in dieser Stadt spielen, dann spürt man, wie schwer es dem Exilierten fällt, sich der alten Heimat wieder zu nähern. Vielleicht ist das besonders schwierig im Fall Sarajevos, einer Stadt, die mit einem Überhang an Bedeutung belastet ist. Eine Stadt wie ein Vexierbild, in der jeder sieht, wonach er sucht: Das multikulturelle Sarajevo (auch wenn es heute nur noch Fassade ist); die Stadt, in welcher der Erste Weltkrieg begann (auch wenn es zwischen Gavrilo Princips Schüssen und dem Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien keine notwendige Verbindung gibt); oder Sarajevo die Märtyrerstadt der Jugoslawienkriege, bei deren Strangulierung die Welt erbarmungslos zuschaute usw. Wie setzt sich Jergović damit auseinander? Ihn interessiert auch hier die Vergangenheit. Princips Gesinnungstat zum Beispiel, für die er Verständnis, ja Sympathie hegt. Dann die Epochenfolge, die beim Betrachten der Stadt sichtbar wird: das osmanische Sarajevo, das österreichisch-ungarische, das jugoslawische Sarajevo. Nur die jüngste Epoche interessiert ihn nicht. Die Bauwut der Oligarchen, der ausländischen Investoren, welche die Kriegszerstörungen überdeckt hat. Das «Verschwinden» der Serben aus der Stadt. Es ist eine grosse und schmerzhafte Arbeit, sich der Stadt, aus der man mit Granaten vertrieben wurde, wieder anzunähern: sich ihre Gegenwart anzueignen, zu prüfen, was geblieben ist und was verschwand. In den Portraits ihrer Herkunftsstädte geben die Autoren davon nichts preis.

Weniger radikal als beim Porträt seiner Heimatstadt Zagreb verfährt Potkonjak bei der Darstellung Sarajevos. Aber wieder sind es melancholische, menschenleere Ansichten, die dominieren. Vororte, in den Hang gebaut, manche Häuser unfertig. Dann der heruntergekommene Bahnhof von Bistrik, wie ein Symbol des beklagenswerten Zustands der Eisenbahn, der unterstrichen wird durch einen vorbeiflitzenden Autobus – das Vehikel der Wahl all jener, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind. Den Ratschlag von Jergović, Sarajevo solle am besten mit der Bahn erreicht und wieder verlassen werden, befolgen nur wenige (er selber macht das eingestandenerweise auch nur im Traum). Potkonjak zeigt die leere Bahnhofshalle mit der Uhren-Skulptur, das verlassene Stadion und das verrammelte Museum, das aus Mangel an Geld und Interesse geschlossen ist. Ein trauriger Ort. Davon hebt sich, irgendwie heroisch, das Bild der drei Männer ab. Sie schauen vom Berg hinunter auf die Stadt, die sich im Tal ausbreitet. Das Bild zitiert die Schlusseinstellung des berühmten Partisanenfilms von Hajrudin Krvavac «Valter brani Sarajevo». Die Deutschen haben sich am Widerstandswillen des legendären Walter die Zähne ausgebissen und ein Wehrmachtsoffizier, bereits auf dem Rückzug, zieht den Schluss: «Jetzt, wo ich gehen muss, weiss ich wer Walter ist.» Er zeigt auf die Stadt. «Das ist Walter!» In der Stimme des Offiziers schwingt Bewunderung mit. Auch Potkonjaks Foto evoziert sie. Gilt sie dem Film oder der Stadt? Wie gesagt: Sarajevo wirkt wie ein Vexierbild.

Vor Potkonjaks skeptischem Blick ist natürlich auch Belgrad nicht gefeit. Man kann sich vorstellen, wie der Fotograf als «Heimatloser» zurück kommt und sucht, was geblieben ist von damals, als er ein junger Mann war. Was er findet, ist deprimierend. Denn es ist ja nicht nur die Jugend verflogen. Die Auswahl an urbanen Zwischenräumen, Investitionsruinen, heruntergekommenen Gebäuden, leckenden Flussbooten ist in Belgrad in der Tat gross. Man kann diese Stadt trefflich zum geschundenen Ort stilisieren (so und so viele mal bombardiert, mit Sanktionen belegt, von Wirtschaftskrisen heimgesucht usw.). Viele Belgrader machen dies gern, vor allem gegenüber ausländischen Besuchern. Aber das ist eine einseitige Interpretation. Man kann ihr das lebenslustige Belgrad gegenüber stellen, mit den Familien, die sich auf der Ada Ciganlija erholen, der Ausgehszene und den Kulturzentren in der Savamala. Oder das friedlich-gelassene Belgrad auf dem Kalemegdan, wo unter den grossen Bäumen die alten Männer Schach spielen. Und gibt es nicht das städtebaulich interessante Belgrad? Die in die Jahre gekommenen Neubausiedlungen jenseits der Sava in Neu-Belgrad, die ein beliebtes Studienobjekt für Architekturstudenten aus vielen Ländern sind? Und es gibt natürlich auch jene, die nach Belgrad kommen, um die Turbo-Architektur aus den 1990er Jahren zu studieren. Gewiss, auch diese Auswahl ist einseitig. Aber wer diese Aspekte ausblendet, will sich hier nicht zuhause fühlen. Weshalb versteckt der Fotograf die schwebende Rotonde des Fliegermuseums beim Flughafen hinter einem Baum? Vielleicht weil sie ein Symbol der jugoslawischen Fliegerei ist, die eine Bauchlandung machte, wie alles, was einst unter dem Kürzel YU in Erscheinung trat. Aus Potkonjaks Sicht ist vom alten (guten?) Jugoslawien nichts geblieben. Und was seither entstanden ist, interessiert ihn kaum.

Hier, in Belgrad, trennen sich Potkonjaks und Jergovićs Wege. Zwar mögen sich beide auf die Gegenwart ihrer Heimatstädte Zagreb und Sarajevos nicht einlassen. Aber anders als der Fotograf findet der Schriftsteller – erstmals in seinem Leben – Gefallen an Belgrad. Früher mochte er die Stadt nicht, er schwänzte die Schulausflüge zum Tito-Mausoleum. Später verabscheute er die Stadt als Zentrum einer verbrecherischen Politik, die ihn und Hunderttausende zu Flüchtlingen machte. Da ist kein Platz für Nostalgie, die vom heutigen Belgrad enttäuscht werden könnte. Das ist die Chance für Belgrad, entdeckt zu werden, bzw. für Jergović, sich der einzigen Grossstadt des untergegangenen Landes mit Interesse zu nähern. Und was findet er? Dass hier alle jugoslawischen und balkanischen Identitäten versammelt sind. Die Stadt hat einen Teil ihres kosmopolitischen Geistes gegen den provinziellen Reinheitswahn des serbischen Nationalismus verteidigt. Sie ist vielfältig, farbig und reich an Überraschungen: ein urbaner Ort.

Belgrad-Sarajevo-Zagreb: Das war die Achse, um die Jugoslawien sich drehte. Die Auflösungserscheinungen wurden zuerst an den Rändern sichtbar. In Ljubljana untergrub eine avantgardistische Subkultur in den 1980er Jahren den steril gewordenen Glauben an Tito und die Partei. Es war eine Bewegung, der sich junge Leute aus allen Landesteilen anschlossen – für sich gesehen also keineswegs eine Bedrohung für Jugoslawien – sehr wohl aber für den real existierenden Staat, der sich als reformunwillig und –unfähig erwies. Von anderer Qualität war der Widerstand, der im Kosovo im gleichen Jahrzehnt begann. Albanische Studenten, ohne Aussicht, mit ihren Abschlüssen je eine angemessene Stellung zu finden, wurden zur Avantgarde einer Bewegung, die sich die nationale Befreiung auf die Fahnen schrieb. Doch erst die repressive Reaktion des Staates garantierte der Bewegung die Zukunft. Eigentlich ist es paradox: Für viele Vertreter der «Generation YU» war das Land gerade in seiner Endphase das richtige und gute Jugoslawien – daher rührt die Nostalgie. Es war liberal, weltoffen und multipolar. Gleichzeitig nahm die ideologische Kohäsion des Systems rapide ab. Die Eliten begannen sich nach neuen Begründungen für die Legitimität ihrer Herrschaft umzusehen – und fanden sie im völkischen Nationalismus. Das Land zerfiel nicht entlang seiner ethnischen Grenzen. Die Konfliktlinie verlief zwischen jenen, die eine grundlegende Reform des Jugoslawismus für machbar hielten und jenen, die flugs vom Sozialismus auf den Nationalismus umsattelten, um oben zu bleiben. Diesen Opportunisten nützte zusätzlich die Verunsicherung, die das Ende des Kalten Krieges für Jugoslawien bedeutete. Mit dem – vorläufigen – Ende des Ost-West-Konflikts hatte es seine geostrategische Bedeutung schlagartig verloren.

Was ist geblieben von Jugoslawien? Ist es naiv zu sagen, eigentlich sei – abgesehen vom disfunktional gewordenen politischen System – alles noch da? Zählen wir auf: Ein gemeinsamer Kulturraum konstituiert und zusammengehalten durch die Sprache. Literatur, Film, Musik, die in allen Nachfolgestaaten produziert und konsumiert werden und einen Markt bilden. Enge wirtschaftliche Beziehungen überhaupt, touristischer Austausch, familiäre Bande. Allen Nachfolgegesellschaften gemeinsam ist auch der Glaube an Autoritäten, konservativ-patriarchalische Weltanschauungen, die Staatsferne und die Klientelsysteme der Parteien. Auf diese Gemeinsamkeiten, die den untergegangenen Staat überlebt haben, beziehen sich viele Bürger und empfinden die Nachbarschaft keineswegs als Ausland. Und dennoch oder vielmehr wegen dieser engen Verflechtungen sind die Irritationen zwischen den Nachfolgestaaten zahlreich und heftig. Fast obsessiv werden die Nachbarn beobachtet, werden Unrecht und vergangene Verbrechen aufgerechnet. Was aussteht, auch zwanzig Jahre nach dem Krieg, ist eine Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Doch was heisst das? Grundsätzlich gäbe es wenigstens zwei mögliche Ansätze: Entweder die postjugoslawischen Gesellschaften konzentrieren sich je auf sich selber, lassen einander in Ruhe und verfolgen einzeln ihre Pfade, die sie – noch immer sollte man davon ausgehen – ins gemeinsame Haus der EU führen werden. Die notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass jedes Land mit seiner Vergangenheit soweit ins Reine kommt, dass diese wirklich vergeht. Dies wäre noch viel wichtiger für eine andere Form der Normalisierung: Die Länder entscheiden sich, miteinander wieder etwas anzufangen. Das wäre kaum ein drittes Jugoslawien, aber vielleicht ein regionaler Verbund innerhalb der EU. Vielleicht definiert man das Problem am besten so: Was soll eine Familie machen, deren Mitglieder nicht zusammen leben wollen, aber auch nicht voneinander lassen können?